Finnische Marine-Infanteristen werden bei einer Übung von einem schwedischen Boot an der norwegischen Küste abgesetzt. Russlands aggressive Politik hat die traditionell neutralen Staaten Schweden und Finnland in die NATO getrieben - und das Bündnis somit gestärkt. Foto: NATO

Finnische Marine-Infanteristen werden bei einer Übung von einem schwedischen Boot an der norwegischen Küste abgesetzt. Russlands aggressive Politik hat die traditionell neutralen Staaten Schweden und Finnland in die NATO getrieben - und das Bündnis somit gestärkt. Foto: NATO

05.04.2024
Von Heinrich Brauß

75 Jahre NATO – ein Blick durch die deutsche Brille

Als Kern des transatlantischen Bündnisses ist der Nordatlantikpakt nicht mehr wegzudenken. Seit 1949 ist das kollektive Verteidigungsbündnis auch für Deutschland die wichtigste Säule deutscher Außenpolitik.

Am 4. April 2024 beging die NATO den 75. Jahrestag ihrer Gründung – inmitten einer großen Krise. Russlands Angriffskrieg will die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten; sie soll Teil Großrusslands werden. Obendrein will Präsident Putin erklärtermaßen die Kontrolle über halb Europa gewinnen. Die NATO-Verbündeten müssen sich daher zwei großen Herausforderungen stellen: der dauerhaften militärischen Unterstützung der Ukraine und dem schnellen Wiederaufbau der vollen Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO. In düsterer Zeit ist der Beitritt Finnlands und Schwedens ein Lichtblick. In beiden Staaten hatte die Bündnisfreiheit eine lange Tradition. Jetzt hat sie Putin in die NATO getrieben. Das Bündnis wird größer und stärker. Die gesamte nordisch-baltische Region mit der Ostsee ist nun eine Großregion der NATO. Und der Beitritt ist ein Zeugnis ihrer ungebrochenen Anziehungskraft.

Seit 75 Jahren verkörpert die NATO die einzigartige Sicherheitspartnerschaft von Nordamerika und Europa, den beiden großen Zentren westlicher Demokratien. Jeder Verbündete, ob groß oder klein, genießt das gleiche kollektive Schutzversprechen gegen äußere Bedrohungen: Einer für alle, alle für einen! Die NATO stellt das Forum für permanente Konsultationen der Verbündeten, im Nordatlantikrat und in dessen zivilen und militärischen Ausschüssen. Alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Generationen von Diplomaten und Diplomatinnen und Angehörigen der Stäbe diesseits und jenseits des Atlantiks haben eine transatlantische Grundhaltung entwickelt, die den Zusammenhalt der Allianz über Jahrzehnte gefördert hat.

Darüber hinaus bildet die NATO den institutionellen Rahmen für die militärische Anwesenheit der USA in Europa. Als Welt- und Seemacht will sie an ihren Gegenküsten dauerhaft präsent sein. Zugleich sind ihre Führungsrolle, die erweiterte nukleare Abschreckung und ihre konventionellen Fähigkeiten für die Glaubwürdigkeit der NATO, für die Sicherheit Europas und für die Kohäsion des Bündnisses unentbehrlich. Es hat zudem ein einzigartiges Partnerschaftsnetzwerk mit über 40 Ländern geknüpft. Und mit der NATO-Kommandostruktur, dem Verbund von militärischen Hauptquartieren in Europa und Amerika, verfügt es über eine permanente militärische Analyse-, Planungs- und Führungskapazität, die international einmalig ist.

Zur Geschichte der NATO

In den mehr als sieben Dekaden ihres Bestehens hat die Allianz große politisch-strategische Herausforderungen bestanden, Umbrüche gemeistert und sicherheitspolitische Epochen mitgestaltet: 40 Jahre Kalter Krieg und Abschreckung der hochgerüsteten Sowjetunion; nach dessen Ende Neuausrichtung auf internationale Krisenbewältigung auf dem Balkan und in Afghanistan; parallel Öffnung der NATO und EU für neue Mitglieder aus Mittelosteuropa bei gleichzeitigem Aufbau einer herausgehobenen Kooperation mit Russland und der Ukraine – als den beiden Säulen der damals neuen euro-atlantischen Sicherheitsordnung. Mit der Okkupation der Krim und dem Krieg im Donbass hat sie Putin bereits 2014 zerstört. Er demonstrierte schon damals seine Bereitschaft, militärische Gewalt offensiv zur Durchsetzung seiner geopolitischen Ziele einzusetzen, wenn er das Risiko für beherrschbar hält.

Die NATO reagierte verhalten. Viele hofften, Putin bekehren zu können. Man setzte vor allem auf die Erhöhung militärischer Reaktionsfähigkeit, besonders durch die neu geschaffene schnelle Eingreiftruppe der multinationalen NATO Response Force. Der Gipfel von Wales 2014 beschloss die schrittweise Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP bis 2024. Aber die Fortschritte blieben begrenzt. Die „Verstärkte Vornepräsenz“ multinationaler Battlegroups in den Baltischen Staaten und Polen, der am meisten exponierten Region, signalisieren Moskau, dass selbst ein begrenzter Einfall dort unmittelbar zum Krieg mit der NATO als Ganzer führen würde. Aber der Aufbau der dafür gebotenen militärischen Verstärkungsfähigkeit fand nicht statt. Die notwendige „Culture of Readiness“ in den Köpfen blieb aus. Erst mit dem großangelegten Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 und der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers wurde vielen die Dimension des Epochenbruchs klar: Russland ist eine große Bedrohung für Europa und die NATO, und zwar für lange Zeit.

Wie geht es weiter?

Der NATO-Gipfel in Vilnius 2023 entschied die signifikante Verstärkung der NATO-Ostflanke. Im Lichte von Putins Angriffskrieg, seinen geopolitischen Zielen und den nahezu täglichen Kriegsverbrechen seiner Armee muss die Allianz mit wirkungsvoller Verteidigung weit vorn beginnen können. Die Battlegroups müssen schnell zu Brigaden und weiter zu Divisionen und Armeekorps aufwachsen können. Mit der Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen wird Deutschland Vorreiter der neuen „Verstärkten Vorne-Verteidigung“.

Mittlerweile hat die NATO die Verteidigungspläne für das gesamte Bündnisgebiets erstellt. Der Bedarf an schnell verfügbaren Kräften in Europa erhöht sich auf 300.000. Hinzu kommt die „Allied Reaction Force“ für schnelle Reaktion in besonders gefährdeten Räumen. Die Ukraine kämpft um ihre Existenz, aber sie schützt auch die südostwärtige Flanke der NATO, bindet russische Kräfte und nutzt sie ab. Auch deshalb muss sie weiter standhalten und schließlich die Oberhand gewinnen können. Sie muss daher endlich die volle Ausrüstung erhalten, die sie dafür braucht. Putin darf keinen Erfolg haben, auch um China nicht zur Invasion Taiwans zu ermutigen. Der Vilnius-Gipfel hat erklärt, dass „die Zukunft der Ukraine in der NATO“ liegt. Der Washington-Gipfel im Juli 2024 sollte den nächsten Schritt gehen und entscheiden, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen. Sie braucht eine ermutigende Perspektive und Putin ein Signal unverrückbarer Entschlossenheit der Allianz.

Globale Risiken – Folgen für die NATO und die Europäer

Über die Ukraine hinaus wirken sich auch globale Krisen auf die NATO aus. Die USA sind in vielen Regionen präsent und schützen die Seewege. Aber sie können nicht überall sein. Sie sehen in China ihren globalen „systemischen Rivalen“. In einer Krise im Indopazifik würden sie ihre militärische Präsenz dort massiv erhöhen. Dann stünden zahlreiche Kräfte, die heute noch für Europa eingeplant oder hier stationiert sind, nicht mehr zur Verfügung. Die Europäer müssen daher selbst viel mehr für die Verteidigung Europas tun. Sie müssen schnell die großen Lücken in ihren Streitkräften füllen, die durch die jahrelange Unterfinanzierung, Reduzierung und Optimierung für Kriseneinsätze entstanden sind. Sie müssen in ihrem eigenen Interesse endlich für faire Lastenteilung mit den USA sorgen, also mindestens 50 Prozent der Fähigkeiten stellen, die die NATO heute und morgen braucht. Der Krieg in der Ukraine zeigt, welche Fähigkeiten höchste Priorität haben: Luftverteidigung, weitreichende Artillerie, zielgenaue Lenkflugkörper, Drohnen und Munition. In Washington sollten sich die Europäer verpflichten, bis 2030 die Hälfte des NATO-Bedarfs an solchen Fähigkeiten zu stellen. Denn nach Auffassung vieler Experten muss die NATO in wenigen Jahren kriegstüchtig sein.

Und Deutschland? Strukturreformen, Ausrüstung und Beschaffung, Personalrekrutierung und Ausbildung müssen sich am anspruchsvollsten Auftrag ausrichten: Landes- und Bündnisverteidigung ohne lange Vorbereitung. Durch die Unterstützung unserer Verbündeten im Osten schützen wir uns selbst. Als zentral gelegene „Drehscheibe“ in Europa spielen wir zudem eine Schlüsselrolle für den Aufmarsch der NATO-Streitkräfte und deren Versorgung. Der „Operationsplan Deutschland“ des Territorialen Führungskommandos liefert daher einen wesentlichen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit der NATO. Dazu gehört der Aufbau von Heimatschutzkräften für den Schutz der Bevölkerung und von kritischer Infrastruktur. Dies und die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr erfordern eine große Mobilmachungsreserve. An der Wiedereinsetzung einer geeigneten Form der Wehrpflicht, wie von Minister Pistorius initiiert, führt kein Weg vorbei.

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